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Gender Health Gap: Auch Kinder werden benachteiligt

MOREFAMILY / Gesundheit

Fehlerhafte und zu späte Diagnosen – der Gender Health Gap ist ein bedeutendes, aber oft übersehenes Thema im Gesundheitswesen. Er beschreibt die Ungleichheiten in der Erkennung und Behandlung von Krankheiten zwischen den Geschlechtern.

© Canva
29.08.2024

 

Dass der Gap kein rein theoretisches Konzept ist, zeigt sich in einer Studie der AXA-Versicherungsgruppe aus dem Jahr 2023. Über die Hälfte aller befragten Hausärzte zeigten sich unsicher, ob sie aufgrund des Geschlechts möglicherweise schon einmal eine fehlerhafte Diagnose gestellt haben. Obwohl die geschlechterspezifische Medizin bereits seit mehreren Jahren in den Fokus rutscht, gibt es doch weiterhin erheblichen Nachholbedarf. Erst seit dem Jahr 2022 existiert eine allgemeine EU-Verordnung, die vorschreibt, dass alle Geschlechter in medizinischen Studien berücksichtigt werden müssen. Wie wichtig der richtige Ansprechpartner für die Diagnose und die medizinische Behandlung von Österreichs Kleinsten ist und wo man diesen findet, weist Gerald Timmel, Geschäftsführer von www.docfinder.at hin.

Das Thema Gender Health Gap ist nicht nur für Erwachsene von Bedeutung, sondern betrifft auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft. Studien der letzten Jahre präsentierten systematische Unterschiede in Diagnose und Behandlung von Krankheiten bei Mädchen und Jungen, was zu ungleichen Gesundheitschancen und langfristigen Folgen führen kann. So zeigen beispielsweise Untersuchungen der American Academy of Pediatrics, dass Jungen häufiger mit Verhaltensstörungen diagnostiziert werden, während bei Mädchen überproportional emotionale Störungen, wie Panikstörungen, erkannt werden. Besonders auffällig sind hierbei die Unterschiede bei Diagnosen wie Autismus, Essstörungen und Schmerzempfinden, die durch geschlechtsspezifische Wahrnehmungen geprägt sind. „Wenn Eltern das Gefühl haben, dass bei ihrem Kind etwas nicht stimmt, sollten sie diesem Gefühl unbedingt Folge leisten, denn sie kennen ihr Kind am besten. Als nächsten Schritt sollten sie dann den Kinderarzt als Experten kontaktieren, um abzuklären, was hinter den Symptomen steckt und welche Schritte als nächstes unternommen werden sollten“, betont Gerald Timmel, Geschäftsführer der Patienten-Ärzte-Matching Plattform DocFinder.

Mädchen unter dem Radar: Wenn Autismus unerkannt bleibt

Die Diskussion über den Gender Health Gap zeigt sich besonders deutlich bei der Diagnosestellung von Autismus: Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) werden bei Jungen deutlich häufiger diagnostiziert als bei Mädchen. Dies liegt daran, dass Mädchen häufig bessere soziale Anpassungsfähigkeiten haben und ihre Symptome weniger offensichtlich sind. „Mädchen im Autismus-Spektrum können ihr Verhalten oft besser kontrollieren und ihre Umgebung beobachten, um soziale Normen nachzuahmen. Dadurch gelingt es ihnen oft, soziale Unsicherheiten zu kompensieren, was die Diagnose erschwert“, erklärt Yvonne Laminger, Klinische Psychologin. Diese Mädchen zeigten meist Interesse an Freundschaften und reflektieren ihre sozialen Interaktionen intensiver, während ihre Spezialinteressen oft weniger auffällig und alterstypischer sind. „Der Grund für die spätere Diagnose von Autismus bei Mädchen liegt unter anderem darin, dass ihre Symptomatik oft als Schüchternheit oder zurückgezogenes Verhalten interpretiert wird, was als typisch weiblich gilt und daher weniger Beachtung findet. Diese geschlechtsspezifischen Erwartungen führen dazu, dass die Schwierigkeiten der Mädchen nicht als „störend“ wahrgenommen werden und somit nicht zur Diagnostik führen“, erläutert Laminger weiter. Erst im Schul- oder Jugendalter, wenn die sozialen Anforderungen steigen und die Kompensationsmechanismen der Mädchen nicht mehr ausreichen, werden ihre Schwierigkeiten deutlich. Eine unentdeckte Diagnose kann so schnell zu einem langen Leidensweg führen, der häufig mit Begleiterkrankungen wie Essstörungen, Angststörungen und Depressionen einhergeht.

 

Der Druck auf Jungen, stark zu sein

Essstörungen wie Anorexia nervosa und Bulimie werden häufig als „weibliche Probleme“ wahrgenommen, was dazu führt, dass Symptome bei Jungen weniger ernst genommen oder anders interpretiert werden. Das liegt daran, dass gesellschaftliche Schönheitsideale und der damit verbundene Druck auf Mädchen stärker ausgeprägt sind. Eine Studie der American Academy of Pediatrics ergab, dass bei Mädchen die Diagnose einer Essstörung im Durchschnitt zwei Jahre früher gestellt wird als bei Jungen. Ein Grund dafür sind die immer noch vorherrschenden Stereotypen in der Gesellschaft. Jungen berichten tendenziell seltener über ihre Symptome, da das gesellschaftliche Stigma um Essstörungen und das Idealbild von Männlichkeit sie oft davon abhält, Hilfe zu suchen. Dies führt dazu, dass sich die Diagnose und Behandlung verzögern und betroffene Jungen möglicherweise die notwendige Hilfe zu spät erhalten. „Wenn der Verdacht auf eine Essstörung besteht, sollten Eltern nicht zögern und sich direkt an den Kinderarzt wenden, da dieser bei allen weiteren Schritten unterstützen kann. Das gilt genauso für Jungen wie für Mädchen!“, appelliert Timmel an alle Eltern.

 

„Sei ein Mann“ – Tut es denn wirklich weh?

Auch im Bereich Schmerzempfinden zeigten sich Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Mädchen neigen dazu, Schmerzen früher zu äußern, während Jungen ihr Leiden eher verbergen. Insbesondere geschlechtsspezifische Sozialisation spielt eine Rolle bei der Art und Weise, wie Schmerzen berichtet werden. Denn Jungen werden oft dazu erzogen, ihre Pein zu verbergen oder zu minimieren, um nicht als schwach zu erscheinen. Aus diesem Grund besteht bei Jungen ein höheres Risiko für Unterdiagnosen oder Fehldiagnosen. Dies kann dazu führen, dass ernsthafte Gesundheitsprobleme, wie chronische Erkrankungen, unbehandelt bleiben. Eine Studie im „Journal of Pediatric Psychology“ fand heraus, dass Jungen mit chronischen Schmerzen oft erst nach längeren Verzögerungen und mehreren Arztbesuchen eine korrekte Diagnose erhalten. Forschungen haben außerdem gezeigt, dass hormonelle Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen das Schmerzempfinden beeinflussen können. Östrogen, ein Hormon, das bei Mädchen und Frauen vorherrscht, kann daher die Schmerzwahrnehmung bei weiblichen Patientinnen verstärken. Zusammenfassend erklärt Gerald Timmel: „Es ist sehr wichtig, dass der Gender Health Gap bei Mädchen wie auch Jungen nicht ignoriert wird, da es sehr gefährlich werden kann, wenn Krankheiten unentdeckt bleiben. Daher ist es entscheidend, bei Auffälligkeiten oder Veränderungen bei einem Kind immer sofort einen Arzt aufzusuchen und rechtzeitig Hilfe zu holen.“

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